FOLGENREICHER TOD EINES JOGGERS

Die neueste Entwicklung ist nicht mehr drin im Film: Im März beschloss der Landtag des Trentinos, dass in diesem und dem kommenden Jahr jeweils acht Bären geschossen werden dürfen, die durch „problematisches“ Verhalten auffallen. Eine eher hilflose Reaktion auf die anhaltende Wut in der Bevölkerung, entfacht durch den Tod des 26-jährigen Andrea Papi vor ziemlich genau einem Jahr. Er wurde beim Joggen von einer Bärin getötet. Der Vorfall ist Anlass und Angelpunkt der Dokumentation „Gefährlich nah – Wenn Bären töten“, deren lüsterner Titel entschlossen am Thema des Films vorbeizielt. Es geht nicht darum, wann und warum Bären angreifen, sondern um eine ebenso behutsame wie gründliche Betrachtung des Projekts, das eine so tragische Folge hatte.

Von 1999 an wurden über mehrere Jahre hinweg insgesamt zehn Braunbären aus Slowenien im Trentino freigelassen, um das Aussterben der Art in der Gegend zu verhindern, es gab nur noch drei Tiere. Dass es 25 Jahre später mehr als 100 sind, die Population deutlich schneller wuchs als erwartet, ist einer der Aspekte, die der Film einkreist. Ob es schlicht eine schlechte Idee war, in der norditalienischen Bergregion ein so enges Nebeneinander von Mensch und Topprädator zu erzwingen oder ihre Tragweite von den Verantwortlichen nicht erfasst, die Bevölkerung nicht ausreichend vorbereitet wurde, ist die eigentliche Frage, die der Film stellt.

Er lässt sich Zeit dabei, zunächst fürchtet man fast, er wolle seinem reißerischen Titel gerecht werden. In der ersten Szene durchkämmt ein Suchtrupp den nächtlichen Wald, der Schein der Kopflampen irrt durch die Dunkelheit, immer wieder ein Ruf: „Andrea!“ Dann fällt das Licht auf etwas am Boden, das aussieht wie ein Kleidungsstück. Die Suche nach Andrea Papi ist nachgestellt, man fragt sich warum, echte Szenen gibt es genug: die vielen schweigend zum Dorffriedhof laufenden Menschen bei der Beerdigung des jungen Mannes. Die Bürgerversammlung, bei der Papis Mutter aufsteht und geht, als aus einem Bericht des italienischen Umweltministeriums von 2021 die Einschätzung vorgelesen wird, dass bei der schon einmal auffällig gewordenen Bärin neue Angriffe, auch mit Todesfolge, „nicht ausgeschlossen“ werden könnten. Die Aufnahmen von der Freilassung der ersten Bären um die Jahrtausendwende: Allein, wie jeder aus dem Käfig tritt, in dem er hertransportiert wurde, die fremde Umgebung vorsichtig in sich aufnehmend, dann panisch losrennend, dazu die angespannten Blicke der Forstleute, Gewehr im Anschlag, fasst eindrücklich zusammen, wie kompliziert es werden kann, wenn der Mensch an der Natur etwas gutmachen will.

Gescheitertes Miteinander zwischen Mensch und Tier

Drei Gruppen stehen sich bei dem ungelösten Konflikt gegenüber, alle kommen zu Wort: die Anwohner und Landwirte der Gegend, die sich die neuen Nachbarn nicht ausgesucht haben; die Tierschützer, die den beschlossenen Abschuss der Bärin JJ4 nach einem ersten Angriff auf Wanderer vor vier Jahren ebenso wie nach der tödlichen Attacke per Klage verhindert haben; die 20 Mitglieder der Spezialeinheit der Forstwache, die für das Bärenmanagement zuständig sind. Sie, die sich, wie einer sagt, „zwischen Hammer und Amboss“ fühlen, vor die Kameras bekommen zu haben ist eine große Leistung des Regisseurs Andreas Pichler. Von der Bevölkerung kritisiert, weil sie sich ihrer Meinung nach nur um die Bären kümmern, von Tierschützern kritisiert, weil sie sich ihrer Meinung nach nicht genug um die Bären kümmern, beschreiben sie ihre Leidenschaft für die Tiere, die in vielen eingespielten Bildern in ihrer ganzen Bärenhaftigkeit zur Geltung kommen, aber auch die Fassungslosigkeit darüber, dass die Abschussgenehmigung für JJ4 per Gerichtsbescheid aufgehoben wurde.

Mit jeder Aussage der Gesprächspartner wird das Bild vollständiger und differenzierter. Bei den unversöhnlich scheinenden Gruppen treten gar nicht so gegenteilige Positionen zutage. Andrea Papis Eltern, die gegen ihren Schmerz ansprechen; erzählen, dass sie nie darüber aufgeklärt wurden, dass sie sich im vertrauten Wald der Joggingrunden und Pilzsammelausflüge nun womöglich anders verhalten müssen. Mitglieder der Tierschutzvereinigung werfen der Landesregierung vor, sich nie wirklich um das Miteinander von Mensch und Wildtier bemüht und nicht einmal bärensichere Mülleimer aufgestellt zu haben. Der Förster, der schon die Ansiedlung der Bären begleitete, versteht nicht, warum in Bezug auf die Tiere „alles so schön weich“ dargestellt wurde. Es gibt Dinge, die man beachten muss, wenn man in einem Bärengebiet lebt. Verhaltensweisen, die ein Zusammentreffen mit den Tieren, die Menschen nicht als Beute, aber unter Umständen als Bedrohung sehen, mit hoher Wahrscheinlichkeit glimpflich ausgehen lassen. Die sie, Stichwort Anfütterung, gar nicht erst zu Problembären werden lassen

Der offenbar einzige Politiker, der sich interviewen ließ, ist Ugo Rossi, von 2013 bis 2018 Landeshauptmann des Trentinos. Er verteidigt sich, man habe Schilder aufgestellt und Informationsveranstaltungen organisiert. Dass die Bemühungen versandet seien, sei auch die Schuld der jetzigen rechten Landesregierung. Diese ist, das sagt Rossis Nachfolger, Lega-Mitglied Maurizio Fugatti, in Reden unverblümt, gegen ein Zusammenleben mit großen Wildtieren – und darum wohl nicht interessiert daran, es konfliktfrei zu gestalten.

Die Bärin JJ4 befindet sich in einem Gehege im Trentino, vielleicht kommt sie in ein Bärenreservat. In einem solchen lebt bereits ihre Mutter Jurka, die, wahrscheinlich, weil sie gefüttert wurde, zu wenig Scheu zeigte. Zu Archivbildern, die zeigen, wie Jurka im Gehege auf die Spitze einer Fichte klettert und sich umsieht, wie sie mithilfe von Stöcken den Zaun zu zerstören versucht, sagt der Geschäftsführer des Bärenparks im Schwarzwald, dass er als Tierschützer dazugelernt habe: Ein schneller Tod sei für einen Bären mit solchem Freiheitsdrang besser als jahrelanges Leiden in Gefangenschaft.

Die Bärenansiedlung im Trentino entsteht als Geschichte eines Versagens, die viele Verlierer hat. Die Menschen hatten nicht die Chance, Bären als ein weitgehend beherrschbares Risiko kennenzulernen, wie es viele Situationen des Alltags darstellen. Weil ihnen gar nicht richtig gesagt wurde, dass es ein Risiko gibt und wie man damit umgeht. Hätten sie sich für die eigentlich jahrhundertealte Nachbarschaft aufs Neue wappnen können, würden sie Bären als Teil der Natur vielleicht schon wieder akzeptieren. Und Andrea Papi könnte noch leben.

Gefährlich nah – Wenn Bären töten ab heute auf Sky und WOW, ab 4. Juni in der ARD-Mediathek, am 10. Juni um 23.35 Uhr in der ARD.

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